Forensische Zahnmedizin & Odontostomatologie
Nicht nur die Fingerabdrücke eines Menschen sind individuell. Auch das Gebiss ist einzigartig und kann eine ganze Menge über seinen Besitzer erzählen. Die forensische Odontostomatologie – auch forensische Zahnmedizin genannt – ist interdisziplinär zwischen der Rechtsmedizin und der Zahnmedizin angeordnet. Die forensische Zahnheilkunde befasst sich aber nicht nur mit der Identifizierung von unbekannten Personen, sondern bringt auch in anderen Zusammenhängen Licht ins Dunkel.
Forensische Odontostomatologie damals und heute
Frühe Berichte über die Identitätsfeststellung anhand von Gebissmerkmalen stammen schon aus römischer Zeit. Agrippina, die Mutter des späteren Kaisers Nero, gab den Auftrag, die reiche Adlige Lollia Paulina umzubringen. Als man ihr das abgeschlagene Haupt vorlegte, spreizte Agrippina die Lippen der Lollia, um sich zu vergewissern, dass es sich auch wirklich um diese Dame handelte.
Karl der Kühne, der Herzog von Burgund, wurde 1477 in der Schlacht von Nancy getötet. Sein Kammerdiener bestätigte die Identität des Herzogs, der bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt unter vielen anderen Gefallenen lag, da er die Zahnlücken wiedererkannte, die Karl der Kühne sich zuvor bei einem Sturz zugezogen hatte.
Der Nutzen einer speziellen "Gerichtlichen Zahnheilkunde" wurde 1862 von Paul Pfeffermann in Wien beschrieben. Auf zwölf Seiten schildert er vier Fälle, für die gerichtlich-zahnärztliche Gutachten in Auftrag gegeben wurden. Erstmals angewandt wurde eine zahnmedizinische Identifizierung 1881 nach dem Brand des Wiener Ringtheaters, bei dem nach offiziellen Angaben 384 Menschen im Feuer ums Leben kamen, inoffiziell sollen es weit mehr gewesen sein. Zähne – einschließlich der Füllungen – können Temperaturen bis zu 1.200 Grad Celsius überstehen. Die Körper der Opfer waren durch das Feuer so stark zerstört, dass nur noch der Zahnstatus zur Identifizierung dienen konnte. Damit wurde der Grundstein für die später weltberühmte "Wiener Schule der Kriminalistik" gelegt.
Eine weitere schreckliche Brandkatastrophe im Pariser Bazar de la Charité forderte am 4. Mai 1897 über 100 Todesopfer. Der Kubaner Oscar Amoëdo y Valdes, ein in den USA ausgebildeter Zahnchirurg, lehrte seit 1889 in Paris Zahnmedizin. Er war zwar nicht selbst an der Identifizierung der Opfer des Brandes beteiligt, befragte jedoch die an der Untersuchung beteiligten Zahnärzte und veröffentlichte die Ergebnisse im ersten Buch zur forensischen Zahnheilkunde, L’Art Dentaire de Medicine Legale (Die Zahnheilkunde in der gerichtlichen Medizin). Er wird seitdem als Vater der forensischen Zahnmedizin bezeichnet, obwohl er selbst Albert Hans, den paraguayischen Konsul, als den eigentlichen Urheber nennt. Dieser hatte die behandelnden Zahnärzte der Brandopfer zusammengerufen, um mit ihrer Hilfe die Identitäten festzustellen.
Auch die Leichen Adolf Hitlers und seiner Lebensgefährtin Eva Braun wurden nach dem Suizid und der anschließenden Verbrennung der Leichname anhand der Gebissmerkmale und einer unverwechselbaren Zahnersatzversorgung identifiziert. Ebenso erging es Lee Harvey Oswald, dem Kennedy-Attentäter: Man vermutete fälschlicherweise, statt seiner wäre ein russischer Spion bestattet. Nach seiner Exhumierung bestätigte sein Gebissbefund eindeutig seine Identität.
Die forensische Zahnmedizin kommt immer dann ins Spiel, wenn die Identifizierung von Personen anhand von Fingerabdrücken oder einer visuellen Erkennung nicht mehr möglich ist. Bei Massen-Katastrophen wie den Anschlägen auf das World Trade Center, Hurrikanen, Flugzeugabstürzen, Erdbeben oder der Tsunami-Katastrophe in Südostasien mit über 230.000 Opfern sind Zahnstellungen und Gebissmerkmale häufig die einzig verbliebenen Möglichkeiten, die Identität einer Person festzustellen.
Welche Merkmale werden bei der zahnärztlichen Identifizierung untersucht?
Zähne und Kiefer können anhand zahlreicher Kennzeichen bestimmt werden. Dazu gehören zum Beispiel die Anzahl der Zähne im Mund, wie viele fehlen oder retiniert sind (das bedeutet, der Zahn ist noch nicht in die Mundhöhle durchgebrochen). Zahnlücken, gefüllte Zähne, behandelte Zahnflächen oder festsitzender Zahnersatz, aber auch Spuren von abnehmbaren Prothesen (Druckstellen) geben eindeutige Hinweise; die Krümmung und Winkelung der Zähne und selbst die Merkmale von Zahnwurzeln werden zur Bestimmung herangezogen. Ist der Kiefer schmal oder breit, weist er einen offenen oder einen Kreuzbiss auf? Gibt es Zahnanomalien, welche Eigenschaften haben die Zahnbögen und der Zahnhalteapparat? Die vielfältigen individuellen Charakteristika der Zähne und zahnärztlicher Therapiemaßnahmen erlauben eine Eingrenzung der Person, die an Sicherheit mit der Fingerabdrucktechnik oder einer DNA Analyse vergleichbar ist. Diese Methode wird deshalb auch "dental fingerprinting" (englisch für "dentaler Fingerabdruck") genannt.
Was die Zähne alles preisgeben können
Die Zahnärzte helfen bei der Identifizierung unbekannter Toter oder ungelösten Fällen. Die Kriminalpolizei veröffentlicht regelmäßig den Zahnstatus von unbekannten Opfern in zahnärztlichen Fachzeitschriften, meistens in Form von Röntgenbildern. Zahnärzte können diese mit den Behandlungsunterlagen ihrer Patienten abgleichen. Jeder Zahnarzt kann als sachverständiger Zeuge vor ein deutsches Gericht bestellt werden, um einen Prozess fachlich zu unterstützen. Art und Umfang zahnärztlicher Behandlungen lassen Rückschlüsse auf den sozialen Status der Person zu, auch die Herkunftsregion und Ernährungsweise kann in gewissen Grenzen mittels der forensischen Zahnmedizin festgestellt werden.
Aus der Pulpa von Zähnen kann DNA gewonnen werden, die wiederum zur Identifizierung dient. Als 2014 in London bei Tunnelarbeiten 25 Skelette gefunden wurden, ließ sich anhand der DNA-Analyse feststellen, dass es sich um Pestopfer aus dem 14. Jahrhundert handelte: Das Pestbakterium Yersinia pestis konnte in mehreren Zähnen nachgewiesen werden.
Die forensische Altersdiagnostik befasst sich der Bestimmung des Alters von verstorbenen Personen oder auch von lebenden, deren Geburtsdatum nicht anderweitig feststellbar ist. Das kann zum Beispiel bei Strafverfahren wichtig sein, bei denen zwischen Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht unterschieden werden muss. In Deutschland ist für eine derartige Altersschätzung ein richterlicher Beschluss Voraussetzung. Auch hier kann das Gebiss durch bestimmte entwicklungsbiologische Merkmale Auskunft darüber geben, wie alt jemand ist.
Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern lassen sich ebenfalls an verschiedenen Merkmalen der Zähne erkennen. Der obere mittlere Schneidezahn ist beispielsweise bei Frauen breiter als der Eckzahn, bei Männern sind die beiden Zähne gleich breit.
Als 1943 eine 5.000 Jahre alte Moorleiche im schwedischen Falköping entdeckt wurde, stellte man nicht nur fest, dass die letzte Mahlzeit der Person aus Himbeeren bestand. Die Verknöcherung der Schädelnähte und der Zahnstatus – besonders die Position der oberen, noch nicht durchbrochenen Weisheitszähne –, ließen im Rahmen der anthropologischen Altersbestimmung den Schluss zu, dass die jungsteinzeitliche Dame bei ihrem Ableben zwischen 20 und 25 Jahren alt gewesen sein muss.
Auch die Untersuchung von Bissspuren im Zusammenhang mit Sexualdelikten, häuslicher Gewalt oder Kindesmisshandlungen gehört zum Fachgebiet der forensischen Odontostomatologie. Jedes Gebiss hinterlässt einzigartige Spuren, was Zahnstellung und Abnutzung betrifft, und ermöglicht so die Zuordnung eines Tatverdächtigen. Sogar angebissene Lebensmittel im Umfeld von Straftaten können entsprechende Hinweise liefern.
Interdisziplinäre Spurensuche in den Zähnen
1972 gründete das Bundeskriminalamt nach einem Flugzeugabsturz auf Teneriffa eine spezielle Identifizierungskommission (IDKO). Die Kommission untersucht große Schadensereignisse, wie zuletzt auch den Absturz der Germanwings Maschine in Frankreich und die Terroranschläge in Berlin und Hanau. Zu diesem Zweck verfügt die IDKO über ein Konsortium von externen Mitarbeitern verschiedener Fachrichtungen, zum Beispiel Rechtsmediziner, Zahnmediziner und Psychologen. Die forensische Untersuchung des Zahnstatus gehört neben Fingerabdrücken und der DNA-Analyse zu den drei primären Identifikationsmethoden, mit der man die Identität einer Person zweifelsfrei feststellen kann. So kann Angehörigen der Opfer die quälende Ungewissheit über das Schicksal ihrer Lieben genommen werden.
Der Arbeitskreis für Forensische Odontostomatologie (AKFOS) wurde 1976 gegründet und ist eine interdisziplinäre Einrichtung der DGZMK (Deutsche Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde) und der DGRM (Deutsche Gesellschaft für Rechtsmedizin). Er koordiniert Forschungsaufgaben und fördert die internationale Zusammenarbeit von Wissenschaftlern. Einmal jährlich führt der AKFOS gemeinsam mit dem Bundeskriminalamt eine Fortbildung durch, bei der die forensische zahnärztliche Identifizierung im Mittelpunkt steht.
Fazit:
Auch wenn Ihnen dieser Beitrag vielleicht etwas düster vorkommt, ist es höchst faszinierend, welche Geheimnisse Zähne auch nach sehr langer Zeit offenbaren können. Genau wie Fingerabdrücke und die DNA eines Menschen sind sie unverwechselbar und verlässliche Zeugen.
- Autor: Über das DentNet.
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